Die
Theraphim
Was
am Tarot zuerst beeindruckt, ist die Zahl 22, weil sie mit der Anzahl der
Buchstaben des Hebräischen Alphabets übereinstimmt. So kann man sich fragen, ob
wir unsere 22 kabbalistischen Figuren nicht den Juden verdanken. Wir wissen, dass
die Großpriester von Jerusalem das Orakel des Urim und
des Thumin befragten, und zwar mit Hilfe der Theraphim, das
heißt mit Bildzeichen oder Hieroglyphen. Eliphas Levi erklärt, wie die
Befragungen im Tempel auf dem goldenen Tisch der heiligen Bundeslade
stattfanden, und er fügt hinzu:
„Als
in Israel das oberste Priesteramt endete, als alle Orakel der Welt vor dem
menschgewordenen Wort schwiegen, das durch den Mund des volkstümlichsten und
sanftesten der Weisen sprach, als die Bundeslade verlorenging, das Heiligtum
entweiht und der Tempel zerstört wurde, da wurden die Mysterien des Ephod und
der Theraphim nicht mehr auf Gold und Edelsteinen festgehalten, sondern von
einigen weisen Kabbalisten auf Elfenbein, Pergament, versilbertem und
vergoldetem Leder und schließlich auf bloßen Karten dargestellt. Diese waren
der offiziellen Kirche immer verdächtig, da sie einen gefährlichen Schlüssel
zu ihren Mysterien enthielten. Daher stammen die Tarotspiele, deren Alter dem
Gelehrten Court de Gebelin durch sein Wissen um Hieroglyphen und Zahlen
offenbart wurde, was später die hartnäckigen Untersuchungen und die zweifelhaften
Erkenntnisse Eteillas auf sich zog."
Was
wir über die Theraphim wissen, ist so unbestimmt, dass wir uns in dieser
Hinsicht schwerlich so sicher sein können. Die Kabbala war den Autoren des
Tarot vertraut, aber diese Philosophen-Künstler konnten kaum semitischer
Herkunft sein. Diese Tradition -weit davon entfernt, einen künstlerischen
Symbolismus zu fördern - hat es immer vorgezogen, ihre abstrakten
Spekulationen mit trockenen Buchstaben, Zahlen und geometrischen Figuren zu
verbinden. Die indoeuropäische Kultur hingegen fällt durch ihren Reichtum an
Farben und Formen auf; sie liebt die Bildersprache und verehrt Abbilder der
Götter. Griechenland könnte in dieser Hinsicht die Heimat des Tarot sein, wenn
uns nicht das mittelalterliche Italien die einzigen unbezweifelbaren Beweise
der Erfindung der Spielkarten böte.
Historische
Tatsachen
Zur
Zeit vor der Erfindung des Holzschnitts gab es ein besonderes Handwerk, das der
Bildermaler. Diese vervielfältigten auf Pergament oder Pappe religiöse oder
profane Gegenstände, die das Volk liebte. Als dieses nun zusehends nicht mehr
nur einzelne, sondern in Serien zusammengefasste Kompositionen begehrte, wurden
immer kompliziertere Bilder angefertigt. Von der Dreiheit der göttlichen
Tugenden zur Vierheit der Evangelisten, der Elemente oder der Kardinaltugenden
ging man über zur Siebenheit der Planeten, der Sakramente oder der Todsünden,
wobei man auch Allegorien zu den fünf Sinnen, den neun Musen und anderen Themen
nicht vernachlässigte.
Die
Italiener kamen auf den Gedanken, alle diese Bilder zu einem Spiel zu
vereinigen, das dem Zeitvertreib und der Belehrung der Kinder dienen sollte. So
wurden die „Naibi" geschaffen, naive Karten, die Moralisten wie Morelli
1393 empfahlen.
Gegen
das Ende des 14. Jahrhunderts führten die ersten belehrenden Karten zur
Erfindung der Spielkarten, die man dem 1419 verstorbenen Francesco Fibbia
zuschreibt. Tatsächlich gewährten die „Reformatoren" der Stadt Bologna
diesem Edelmann als dem Erfinder des „Tarocchino" das Recht, sein
Wappenschild auf die Stab-Königin und das seiner Frau, einer Bentivoglio, auf
die Münzen-Königin zu stellen.
Die
Idee der Zahlenkarten (As, 2, 3 etc.) scheint den Spielern durch die Würfel
eingegeben worden zu sein, während die Figuren (König, Königin und Reiter) und
erst recht der Narr und der Turm
des Tarot dem Schachspiel
entnommen sein mögen. Aber diese von Wissenschaftlern aufgestellten
Erklärungen, die sich mit dem Ursprung der Karten beschäftigen, sind weit davon
entfernt, das Geheimnis der Herkunft des lombardisch-venezianischen Tarot zu
erhellen. Dieser Vorfahre aller in Europa bekannten Kartenspiele ist
offensichtlich mit kabbalistischem Wissen durchtränkt, wie dies Papus in
seinem Tarot des Bohemiens sehr gut gezeigt hat. Die viermal vierzehn Karten oder
Kleinen Arkana bezeichnen Gegenstände, die den 22 eigentlichen Tarotkarten
fernstehen; sie beziehen sich auf die okkulte Kunst und entsprechen den
Buchstaben des göttlichen Tetragrammaton.
STAB, Auguren- oder Zauberstab, Befehlszeichen,
das Zepter der männlichen Herrschaft, Emblem der männlichen Zeugungskraft:
der Vater.
KELCH, der Wahrsagekelch, die weibliche
Empfänglichkeit, und zwar sowohl die intellektuelle wie die körperliche: die Mutter.
SCHWERT, Schwert des Geisterbeschwörers, die
ein Kreuz darstellende Waffe, welche an die schöpferische Vereinigung des
männlichen und des weiblichen Prinzips anspielt; die Verschmelzung, das Zusammenwirken
der Gegensätze. Das Schwert symbolisiert ferner eine durchdringende Handlung
wie die des Wortes oder des Sohnes.
MÜNZE, der Pentakel-Diskus, der Stützpunkt
des Willens, kondensierender Stoff mit geistiger Wirkung; die Synthese, die die
Dreiheit zur Einheit zurückführt: Trinität
oder Dreieinigkeit. Diese
Wahl bedeutet etwas ganz anderes als ein zufälliges Zusammentreffen, und es
kann nicht bezweifelt werden, dass der Erfinder des auf das Spiel angewandten
Tarot ein in die Mysterienweisheit seiner Zeit Eingeweihter war.
Was
soll man aber von den 22 Großen Arkana halten, die älter als die anderen Karten
sind? Diese befremdenden Bilder sind im Jahre 1392 von Jacquemin Gringonneur
„zur Erheiterung unseres unglücklichen Königs Karl VI" reproduziert
worden; doch scheint sie schon der weise alchemistische Mönch Raimundus Lullus,
der zwischen 1235 und 1315 wirkte, gekannt zu haben.
Man
hat sie von den sogenannten Baldini-Karten ableiten wollen, die man Mantegna zuschreibt.
Die beiden Ausgaben dieses Spiels, die man kennt, sind allerdings erst 1470 und
1485 datiert, doch nimmt man wohl richtig an, dass der Graveur jener Zeit ein
älteres Vorbild besaß. Und dieses unbekannte Modell kann einzig im Tarot
gesucht werden, von dem die Baldini-Karten nur eine systematisierte
Erweiterung darstellen. Der Künstler war sehr geschickt in seinem Fach, keineswegs
aber ein Eingeweihter; er wollte das Tarotspiel korrigieren, indem er es den Bedürfnissen
seiner Logik und seiner Philosophie anpasste. Er versuchte, die Figuren
vernünftig zu ordnen, deren scheinbares Durcheinander ihn schockierte: So
erklärt sich dieses kunstreiche Spiel von 50 Karten, die in Zehnerserien
gruppiert sind. Die erste dieser Zehnerreihen zeigt die Hierarchie der
gesellschaftlichen Stände: Bettler, Diener, Handwerker, Kaufmann, Edelmann,
Ritter, Doge, König, Herrscher und Papst. Die neun Musen und Apollo bilden die
zweite Zehnerreihe. Die dritte und ein Teil der vierten ist den
Wissenschaften, der Rest der vierten den Tugenden gewidmet. Die letzte endlich
umfasst die sieben Planeten, die 8. und die 9. Sphäre (Primum Mobile) sowie
die Prima Causa, den Ursprung aller Dinge.
In
diesem Spiele findet man - leicht verändert und den Vorstellungen des
Künstlers angepasst - alle Figuren des Tarot wieder. Dieser hat also sein Werk
nach den traditionellen Tarotkarten geschaffen. Wäre das Umgekehrte passiert,
so wäre es kaum zu erklären, wie 22 Bilder willkürlich einem glanzvollen System
von 50 hätten entnommen werden sollen. Schon die Naivität des Stils garantiert
übrigens das höhere Alter des Tarot. Die ursprünglichen Tarotkarten müssen jedoch
von den „Naibi", diesen belehrenden, noch nicht zum Spiel verwendeten
Karten, abstammen. Ein Adept des 13. Jahrhunderts wollte wohl mit Hilfe dieser
reichverzierten und auf der ganzen Welt beliebten Bilder ein kabbalistisches
Buch zusammenstellen. Ihre Vielfalt erlaubte ihm, jene auszusuchen, die man
zuerst den 10 Sephiroth der Kabbala, dann weiter den 22 Buchstaben des Heiligen
Alphabets zusprechen konnte. So kann an einem uns unbekannten Orte zu einer uns
unbekannten Zeit zuerst eine Vorform unseres Tarot entstanden sein. Doch: sind
wir gewiss, dass es sich hier um eine individuelle Schöpfung handelt? Hat ein
genialer Mensch den ganzen Tarot erdacht? Das ist sehr zweifelhaft, wenn wir
die Modifikationen berücksichtigen, die der Tarot im Laufe der Zeit erfahren
hat. Die ältesten Ausgaben sind nicht die vollkommensten in symbolischer
Hinsicht; der Symbolismus ist dort noch zögernd und tastend. Die aufeinanderfolgenden
Kopisten haben uns schließlich einen Tarot gegeben, in dem jede Einzelheit
seine mit der Gesamtheit übereinstimmende Bedeutung hat. Man muss zugeben, dass
einige Bildermaler mit einer gewissen Sehergabe für Symbole in ihre
Reproduktionen glückliche Varianten einführten, die später allgemeine Gültigkeit
erlangten; aber andere, die eine den geheimnisvollen Richtlinien der Tradition
unzugängliche Phantasie besaßen, entstellten nur das Original. Obwohl die
Abweichungen immer wieder stattfanden, machten sie nicht Schule, denn ein
unbestimmter, aber sicherer Instinkt führte die geschickteren Bildermaler
stets auf den rechten Weg des reinen Symbolismus zurück. So erhalten wir im
Tarot eine anonyme Erbschaft, ein geniales Werk, das wir dem Zusammenwirken
demütiger Bildermaler verdanken, die mit ahnungsreicher Unschuld einer den
andern nachahmten und ohne ihr Wissen ein reines Wunder schufen.